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Gastbeitrag: Myanmar: Stillstand und Segmentierung im System der Hochschulbildung – und die Frage nach Haltung und Hilfe

© F. Kraas

Die Folgen von Pandemie und Machtübernahme führen zum Stillstand im myanmarischen Hochschulsystem. Die sehr unterschiedlichen Entscheidungen der Hochschulangehörigen treiben tiefe Keile in die Gemeinschaft. Gerade jetzt sollten die Verbindungen zu ihnen gehalten und mittelfristig, mit Umsicht, pragmatische Ansätze für eine Zusammenarbeit entwickelt werden.

Mit der Machtübernahme durch das Militär in Myanmar im Februar 2021 und dem folgenden breiten Widerstand in der Bevölkerung im ganzen Land hat sich die Situation an den Hochschulen und im akademischen Bildungswesen tiefgreifend verändert. Im Widerstand gegen die Machtübernahme ging ein erheblicher Teil der Universitätsangehörigen, Lehrende wie Verwaltungspersonal, in zivilen Ungehorsam (Civil Disobedience Movement, CDM). Unterschiedlichen, letztlich unbestätigten Schätzungen zufolge schloss sich im Mai 2021 zunächst bis zu einem Drittel der Universitätsangehörigen der CDM an bzw. unterstützte die Bewegung aktiv. Diese wurden zunächst temporär vom Dienst suspendiert, später aus dem Staatsdienst entlassen. Bei Widerruf und Wohlverhalten konnten sie, sofern sie nicht aktiv in die Organisation von CDM eingebunden gewesen waren, eine Wiederaufnahme der Tätigkeit innerhalb von sechs Monaten unter Bedingungen beantragen – wovon ein unbekannter, doch nicht unerheblicher Teil bis September Gebrauch machte.

Die Lage im Bildungssektor zeigt – soweit angesichts der schwierigen Kommunikations-, speziell Internetsituation ein verlässlicher Überblick möglich ist – ein differenzierteres Bild, als es, oft verkürzt, in internationalen und sozialen Medien vermittelt wird. Nachdem der reguläre Universitätsbetrieb in der Covid-19-Pandemie seit März 2020 ohnehin kaum noch und in der sog. dritten Welle Mitte 2021 überhaupt nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, befindet er sich inzwischen weitgehend im Stillstand. Homeoffice und Digitalunterricht konnten nur wenig, in den größeren Städten etwas kompensierend wirken. Zudem verweigern der größte Teil der Studierenden und viele Lehrende eine Wiederaufnahme des normalen Unterrichts. Etwa ein Drittel der Studierenden in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften setzte das Studium fort; in den Naturwissenschaften liegt der Anteil höher. Die Zahlen sind jedoch landesweit unterschiedlich. Private Institutionen und internationale Digitalangebote können Studierende aus Zugangs-, Kosten- und Sicherheitsgründen bestenfalls zu einem sehr kleinen Teil erreichen. Hinzu kommt das Problem zumeist fehlender Zertifizierung und damit Anrechenbarkeit von Studienleistungen. Während ein offenbar großer Teil der Studierenden der jungen Generation die Aufnahme oder Fortsetzung eines Studiums ablehnt, scheint die Situation bei Promovierenden und Tutoren etwas anders auszusehen. Einzelne versuchen Möglichkeiten von Stipendien für ein Auslandsstudium oder eine Promotion zu erschließen, wobei es zumeist schon an ausreichenden Sprachkenntnissen mangelt.

Das mit Blick auf die zukünftige Entwicklung des Hochschulsystems größte Problem besteht darin, dass nicht nur ein erheblicher Teil der Lehrenden die Hochschulen verlassen hat und Versuche von Neurekrutierungen auf wenig Resonanz treffen, sondern dass sich innerhalb des Lehrkörpers tiefe Segmentierungen gebildet haben. Es wäre zwar eingängig und einfach, von einer Spaltung innerhalb der Gruppe der Lehrenden zu sprechen, doch die Realität sieht erheblich differenzierter aus.

Zu differenzieren ist zum einen zwischen solchen, die sich CDM angeschlossen und die Hochschulen verlassen haben, und denjenigen, die sich aus unterschiedlichen Motiven für einen Verbleib im Dienst entschieden. Zum Zweiten arbeiten unter den im Hochschulsystem Verbliebenen viele an einer Sicherung von erreichten Ausbildungsstandards, während andere eher Dienst nach Vorschrift leisten.

Innerhalb der sog. CDMler hat sich ein Teil den radikalen Gegnern des Militärs zugewendet und sieht im bewaffneten, oft Guerillakampf die einzige Lösung des Konflikts. Radikalisierung (“wer nicht für uns ist, ist gegen uns”) und Polarisierung führen dazu, dass andere Meinungen nicht mehr gehört und geduldet werden. Andere unterstützen diesen Kampf direkt oder indirekt, finanziell, ideell oder durch Dienstleistungen. Wieder andere engagieren sich im Auf- und Ausbau von bildungsbezogenen Parallelstrukturen. Hierzu gehören Tutoriumsangebote, nachbarschaftliche oder Freundschaftshilfe, aber auch Engagement in Privatschulen oder bei privaten Bildungsinitiativen. Wenige ehemalige Lehrende scheinen in international organisierte Lehrangebote eingebunden zu sein, etwa das Netzwerk der Spring University, oder in alternative, oft digitale Angebote. Da Formen der Unterstützung von CDM unter Strafe gestellt wurden, beobachtet und kontrolliert sowie verfolgt werden, ist eine unbekannte Zahl von Personen untergetaucht oder hält sich an wechselnden Orten auf. Entlassene CDMler in früheren Führungspositionen leben in Sorge vor Repressalien und Festnahmen. Andere sind ins Ausland, vor allem nach Thailand und Indien, geflohen.

Viele Lehrende haben sich dazu entschlossen, oft erst kurz vor Ablauf der Entscheidungsfrist, im Bildungssystem zu bleiben, aufgrund sehr unterschiedlicher Gründe und Motive. Zum einen sind darunter (wenige) Hochschulangehörige, die die Standpunkte des Militärs teilen oder mit Militärangehörigen verheiratet oder verwandt sind. Andere vertreten die Auffassung, dass der multi-ethnische Staat mit allen Mitteln zusammengehalten und das Land gegen ausländische Aggressoren verteidigt werden muss. Wieder andere, darunter viele, die die Konsequenzen der Konflikte von 1988, 1990 und 2007 in Erinnerung haben, wollen eine weitere Eskalation der Gewaltspirale mit ihren hohen Opferzahlen, wollen Bürgerkrieg, wirtschaftlichen Zusammenbruch und soziale Destabilisierung verhindern, wollen Menschenleben – vor allem das der jungen Generation – schützen. Die meisten sind grundsätzlich gegen die Anwendung von Gewalt. Viele sehen sich aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht in der Lage, die mit einem Ausscheiden aus der Hochschule verbundenen Risiken auf sich zu nehmen, zu denen der Verlust von Arbeitsplatz, Unterkunft, Gehalt und Ansprüchen auf Versorgungsdienstleistungen und Rente gehören. Wieder andere wollen sich CDM aus grundsätzlichem Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein gegenüber einem Erhalt des Bildungssystems als dem Schlüssel für die Zukunft der Gesellschaft nicht anschließen. Auch haben viele die Hoffnung oder sogar Überzeugung, man müsse unter Hochschulangehörigen und Intellektuellen die Brücken für einen vielleicht doch irgendwann möglichen Dialog offenhalten.

Die Auswirkungen der mit dieser Aufsplitterung von Entscheidungen und Haltungen verbundenen Situation treiben tiefe Keile in die Hochschulgemeinschaft, zerstören Vertrauen und verhindern kollegiales Miteinander. Für ihre Entscheidung zum Verbleib im Hochschulsystem werden viele Lehrende von einigen, wenigen, CDMlern persönlich und in sozialen Medien diffamiert, teils bedroht. Vormals gute Freunde, die sich unterschiedlich entschieden, können nicht mehr miteinander sprechen. Kolleginnen und Kollegen werfen sich Parteilichkeit, Einseitigkeit, gar Verrat vor. Fehlinformationen und Gerüchte verstärken wechselseitige Missverständnisse und Vorverurteilungen. Offener Dialog und Diskussion über unterschiedliche Positionen, ein Sprechen über Kontroversen, Kritik oder gar Konflikte waren schon vor dem Machtwechsel in der Gesellschaft Myanmars wenig verbreitet und geübt; in der aktuellen Situation verstärkt sich dieses Schweigen, diese Sprachlosigkeit. Angesichts sich zunehmend verhärtender, mehrfacher Fronten ist an Dialog, Verhandlungen oder Vermittlung derzeit deshalb kaum zu denken.

Für die internationale Wissenschaftsgemeinschaft, kooperierende Hochschulen und letztlich jede/n einzelne/n Wissenschaftler/in stellt sich die Frage, welche Reaktionen, Unterstützung und Hilfe vor diesem Hintergrund richtig und vertretbar sein können.

Bedenklich ist zunächst, dass im Ausland über Myanmar, das hinter Indonesien nach der Fläche zweitgrößte Land Südostasiens, “zwischen China und Indien”, wenig Tiefenkenntnis über die Komplexität und Dynamiken der politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und umweltbezogenen Realitäten, auch in Bezug auf die Verbindungen zu den Nachbarstaaten existiert.

Viele internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen Kolleginnen und Kollegen in Myanmar schon lange, nicht erst seit der Machtübernahme, aus akademischer, politischer und persönlicher Überzeugung sehr aktiv, direkt und indirekt, finanziell wie ideell – auch völlig unabhängig von ihren Einstellungen und Entscheidungen. Manche befürworten radikale oder aktivistische Positionen und Initiativen und fordern Unterstützung für den bewaffneten Widerstandskampf. Andere halten Dialog, zu gegebener Zeit, für den einzigen Weg eines Ausstiegs aus der zunehmend eskalierenden Gewaltspirale und für die Grundlage eines zukünftigen Ausgleichs zwischen den zahlreichen Interessensgruppen im Land.

Hilfsprogramme für verfolgte und gefährdete Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – etwa durch viele internationale Programme sowie das Hilde-Domin- (DAAD) oder die Philipp-Schwartz-Initiative (Alexander von Humboldt-Stiftung) – können in begrenztem Maße einzelnen Gefährdeten helfen, in Sicherheit zu kommen. Für viele Myanmaren stellen solche Stipendien aus Furcht vor unsicherer Zukunft und aus Sorge um eine Gefährdung ihrer Familien und Angehörigen allerdings keine Option dar. Oft fehlen erforderliche Ausweispapiere. Einige mit einem Stipendium ausgereiste Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler berichten, dass sie ihre Ausreise als Verrat an ihren Familien und den im Land Gebliebenen bereuen; sie fühlen sich schuldig oder leiden unter der Tatsache, nicht mehr vor Ort helfen und absehbar nicht mehr nach Hause reisen zu können.

Gezielte finanzielle Unterstützungsleistungen für Kolleginnen und Kollegen in Myanmar, die unter der allgemeinen, inzwischen enormen Teuerung von Grundnahrungsmitteln, Energie- und Kommunikationskosten, teils unter dem Verlust ihrer Arbeitsplätze und Versorgungsperspektiven leiden, sind möglich, angesichts der Bankenkontrolle aber schwierig; sie kann zumeist allein über Drittstaaten und Mittelspersonen erfolgen. Eine Hilfe kann weiterhin in einer Unterstützung des Ausbaus digitaler Bildungsangebote im In- und Ausland für Lehrende und Studierende liegen, wie es einige Kooperationsprojekte bereits unternehmen.

Verständnis für – gerade auch die unterschiedlichen – Entscheidungen und Solidarität mit den Lehrenden und Studierenden in Myanmar können zur persönlichen Stabilisierung beitragen – mit großer Vorsicht und Umsicht. Die Verbindung zu ihnen eng und aktiv zu halten, ist menschliche Selbstverständlichkeit.

Welche Schritte sind zukünftig denkbar und sinnvoll? Auch wenn in jüngster Vergangenheit viele Verbindungen, einschließlich der Entwicklungszusammenarbeit, zu Myanmar heruntergestuft wurden und derzeit ruhen: Im Bereich der humanitären Hilfe sowie von Bildung und Gesundheit sollten mit Umsicht pragmatische Ansätze einer Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen entwickelt werden. Das myanmarische Bildungssystem weiterhin – gerade jetzt! – im Geiste universeller Wissenschaftsprinzipien zu unterstützen, ist angesichts des drohenden Zusammenbruchs des Hochschulsystems ein Gebot der Stunde.

Ein Postskriptum zur Verbindung von Politik und Wissenschaft sei erlaubt: Das Beispiel geringen Tiefenwissens über Myanmar verdeutlicht, dass, entgegen aktuellen Trends, in unserem Wissenschaftssystem “Modewellen” widerstanden werden sollte; vermeintlich irrelevante, sog. “kleine Fächer” – man sollte korrekterweise von “kleingemachten” sprechen – können unvermittelt relevantes Wissen bereitstellen. Wie kurzsichtig der falsche Trend des sukzessiven, teils dramatischen Abbaus von gerade regional- und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsbereichen – wie es nach Ende des sog. Kalten Kriegs im Abbau etwa mit der großen Kompetenz der “Ostinstitute” erfolgte –, zeigt sich in der aktuellen Lage der Weltpolitik.

(Prof. Dr. Frauke Kraas, 28. Februar 2022)

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