Warum Vietnam?
Vietnam, einer von nur noch fünf dem Namen nach sozialistischen Staaten weltweit (neben China, Laos und Nordkorea in Asien sowie Kuba), hat sich in vergleichsweise kurzer Zeit zu einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften entwickelt. Nach dem Ende des Vietnam-Kriegs 1975, der in Vietnam selbst zu Recht als Amerikanischer Krieg bezeichnet wird, war das Land zerstört und völlig verarmt. Die Wiedervereinigung des Nordens mit dem Süden durch die siegreiche Kommunistische Partei Vietnams (KPV) hatte ihren hohen Preis, und bis heute sind deutliche kulturelle, wirtschaftliche und auch politische Unterschiede auszumachen.
Im Zuge der Reformpolitik „Doi Moi“ 1986 setzte eine dynamische Wirtschaftsentwicklung ein, die Vietnam zuletzt aus den Least Developed zu den Lower Middle Income Countries geführt hat. Ähnlich wie China, der große Nachbar im Norden, der sieben Jahre früher, 1979, mit seinen Wirtschaftsreformen begann, wurden Kräfte freigesetzt, die als „sozialistische Marktwirtschaft“ zu einem raschen und stetigen Wirtschaftswachstum führten. So wuchs die vietnamesische Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahren jeweils um 6,8 Prozent.
Einhergehend mit dieser rasanten Wirtschaftsentwicklung entsteht eine schnell wachsende Mittelschicht. Das gilt insbesondere für die boomenden Städte wie Hanoi und Ho Chi Minh-Stadt, aber auch für Städte wie Haiphong, Danang oder Can Tho. Auf dem Land herrscht dagegen zum Teil noch große Armut, insbesondere in den von Minderheiten bewohnten Gebieten.
Die wachsende Mittelschicht verfügt über ein überdurchschnittlich hohes Bildungsbewusstsein. Das hat seinen Grund sicher auch darin, dass Vietnam eine konfuzianisch geprägte Gesellschaft ist, wie auch China, Japan und Korea. All diesen Gesellschaften ist eigen, dass sie im besonderen Maße Bildung und Wissenschaft als Schlüssel für gesellschaftliche Entwicklung betrachten und entsprechend bereit sind, staatlich wie vor allem auch privat in hohem Maße darein zu investieren. Wo und wann immer möglich, finanzieren Familien die Bildung ihrer Kinder, auch wenn sie sich dafür verschulden müssen. Die Kinder wiederum zahlen das mit einem hohen Lernwillen und mit einer außerordentlichen Disziplin zurück, die allerdings kaum Freiräume für eine spielerisch-freie kindliche Entfaltung zulässt.
Die KPV und die von ihr gesteuerten Regierungen haben den gewachsenen Bildungsanforderungen und dem Druck in die Hochschulen des Landes durch einen massiven Ausbau des Hochschulsystems Rechnung getragen. Alleine seit 2010 ist die Zahl der Hochschulen (ohne berufsbildende Colleges) um 25 Prozent auf 236 gestiegen. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Studierenden von 1,4 Mio. auf 1,7 Mio. Die Zahl der Hochschullehrer wuchs seitdem sogar um 47 Prozent von 51.000 auf 75.000.
Aber die Qualität der Ausbildung an den Hochschulen konnte nicht mit dem quantitativen Ausbau Schritt halten, was seit mehreren Jahren zu einem starken Anstieg des Auslandsstudiums führt. Alleine im letzten Jahr zog es rund 17 Prozent mehr Vietnamesen zum Studium an deutsche Hochschulen als im Vorjahr (rund 4.800), womit Deutschland auf Platz sieben der beliebtesten Zielländer steht, mit überdurchschnittlichen Wachstumsquoten. Die USA, Japan und Australien sind mit Abstand die beliebtesten Zielländer, gefolgt von Frankreich, Großbritannien und Korea.
Die Studierenden aus den genannten konfuzianischen Ländern zählen zu den erfolgreichsten Auslandsstudierenden in Deutschland, darunter auch die Vietnamesen. Sie sind daher sehr gerne gesehene Gäste an deutschen Hochschulen, vor allem in den MINT-Fächern.
Die vietnamesischen Hochschulen zeigen traditionell ein sehr großes Interesse an einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit und am akademischen Austausch mit Deutschland, auch wegen der engen Beziehungen Nordvietnams zur ehemaligen DDR. Auch umgekehrt steigt das Interesse an einer Zusammenarbeit. So verwundert es auch nicht, dass die Zahl der Hochschulkooperationen zwischen Deutschland und Vietnam kontinuierlich wächst auf mittlerweile 153 (laut HRK-Hochschulkompass).
Vietnam ist für deutsche Hochschulen ein sehr guter Rekrutierungsmarkt: eine wachsende Mittelschicht mit mehr finanziellen Möglichkeiten, ein hohes Bildungsbewusstsein sowie der Wunsch, die eigenen Studierenden zum Auslandsstudium und hier insbesondere auch nach Deutschland zu schicken.
Schaut man sich die Hochschulentwicklung in China an, dann erkennt man viele Parallelen zu Vietnam. Vor rund 10 bis 15 Jahren standen die chinesischen Hochschulen vor ähnlichen Herausforderungen: Ein zu rascher Ausbau des Hochschulsystems und eine nicht ausreichende Qualität führte zu einem enormen Anstieg der Auslandsmobilität. Aber China investierte in großem Maße in sein Hochschulsystem, suchte internationale Zusammenarbeit und entwickelte sich so zu einem auch qualitativ sehr starken Wissenschaftssystem, das heute weniger Studierende als früher verlassen und in das immer mehr international anerkannte chinesische Wissenschaftler zurückkehren. Der konfuzianische Nachbar Vietnam hat, in kleinerem Maßstab natürlich, ein vergleichbares Potential, das für deutsche Hochschulen viele Chancen birgt.
(Stefan Hase-Bergen, 04. Januar 2019)