International und konfuzianisch
Spätestens seit 2006, mit der Inkraftsetzung der Higher Education Reform Agenda, sind die vietnamesischen Universitäten offiziell aufgefordert, mit Partnern in aller Welt zusammenzuarbeiten. Die internationale Integration Vietnams, das heute schon in besonderem Maße in den globalen Handel eingebunden und ein wichtiger internationaler Produktionsstandort ist, gilt als wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Entwicklung des Landes, insbesondere seiner Wirtschaft, aber auch in Bildung und Forschung.
Schon seit dem 11. Jahrhundert standen vietnamesische höhere Bildungseinrichtungen unter ausländischem, allerdings meist sehr einseitigem, Einfluss. Mit dem 1070 errichteten “Literaturtempel” in Hanoi, der als älteste “Universität” Vietnams gilt, wurde eine konfuzianische Tradition höherer Bildung begründet, die bis heute spürbar ist. Rund 800 Jahre lang wurden nach chinesischem Vorbild die Söhne der Oberklasse zu Beamten ausgebildet.
Der chinesische Einfluss endete erst mit der Kolonialisierung Vietnams durch Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts. Französische Collèges lösten die konfuzianischen Akademien ab, um vor allem die eigene Kolonialadministration auszubilden, wobei in geringer Zahl erstmals auch Frauen zum Studium zugelassen waren.
Die Niederlage in der Schlacht von Dien Bien Phu 1954 besiegelte das Ende der französischen Kolonialzeit und den Beginn der vietnamesischen Unabhängigkeit mit der Herrschaft der Kommunisten unter Ho Chi Minh. Im geteilten Vietnam wurde zunächst nur im Norden das Hochschulsystem nach sowjetischem Vorbild umgebaut. Die Hochschulen waren reine Ausbildungsstätten und in der Regel auf ein Fachgebiet konzentriert. Sie unterstanden direkt dem Bildungsministerium, je nach fachlicher Ausrichtung auch zum Beispiel dem Verkehrs-, Gesundheits- oder Justizministerium.
In Südvietnam dagegen wurde das französische Hochschulmodell weitergeführt, allerdings mit zunehmendem amerikanischem Einfluss beispielsweise durch die Einrichtung von Volluniversitäten oder die Gründung von im Norden verbotenen privaten Hochschulen.
Nach dem Ende des Vietnamkriegs (oder wie die Vietnamesen ihn besser nennen: Amerikanischer Krieg) 1975 wurden der Norden und der Süden unter kommunistischer Herrschaft wiedervereinigt. Während an den Hochschulen in Nordvietnam zu der Zeit knapp 56.000 Studierende eingeschrieben waren, lernten an den südvietnamesischen Hochschulen rund 150.000 Studierende. Mit der Wiedervereinigung wurde das sowjetische Modell der spezialisierten Lehranstalten auf das ganze Land übertragen. Forschung wurde an diesen Hochschulen nicht betrieben, dafür wurden eigens nach sowjetischem Vorbild Forschungsakademien wie die Vietnamese Academy of Science and Technology mit ihren aktuell 33 Forschungsinstituten oder fachlich spezialisierte Akademien eingerichtet. Sie unterstehen dem Wissenschaftsministerium oder anderen Ministerien.
Das Hochschulsystem sowjetischer Prägung hat bis heute Bestand, wird aber reformiert und entfernt sich zunehmend von den bisherigen Prinzipien. Der Aufbau der beiden Nationaluniversitäten in Hanoi und Saigon sowie weiterer drei Regionaluniversitäten in Thai Nguyen, Hue und Danang von 1993 bis 1995 war ein wichtiger Reformschritt. Fachlich spezialisierte Hochschulen wurden unter einem übergreifenden Dach jeweils zu einer Universität mit einem breiten Fächerangebot zusammengefasst. Die Higher Education Reform Agenda war der erste Masterplan zur Entwicklung der vietnamesischen Hochschulen, dem 2012 erstmals ein eigenes Hochschulgesetz folgte. Mehr Universitäten, insbesondere auch private Einrichtungen, und eine höhere Jahrgangsquote eingeschriebener Studierender gehörten ebenso zu den Planungen wie eine bessere Qualifizierung der Hochschullehrer, eine Stärkung der Forschung insbesondere an Spitzenhochschulen sowie die Internationalisierung der bisher sehr national ausgerichteten Hochschulen. Der Aufbau von “Exzellenten Universitäten” in Kooperation mit entwickelten Ländern wie die Vietnamesisch-Deutsche Universität soll die Autonomisierung der Hochschulen sowie deren Forschungskapazitäten modellhaft voranbringen. Grundsätzlich soll die Gewährung von mehr Autonomie die Universitäten qualitativ deutlich voranbringen.
Die Reformschritte der letzten 20 Jahren haben die Einflüsse des sowjetischen Hochschulmodells deutlich reduziert, und die vorgegebene Richtung wird zu einer völligen Abkehr dieses Modells führen. Bei allen noch bestehenden Herausforderungen erkennt man eine positive Entwicklung hin zu autonomen Universitäten in Vietnam, die nicht mehr dem vorgegebenen Hochschulsystem eines einzigen Landes folgen, sondern weltweit mit vielen Partnern kooperieren und ein international vernetztes eigenständiges Hochschulsystem bilden, das in konfuzianischer Tradition Bildung und Wissenschaft in besonderer Weise wertschätzt. Deutsche Hochschulen als hochangesehene Partner können diesen Prozess vielfältig unterstützen und dabei durchaus auch von der Zusammenarbeit profitieren.
(Stefan Hase-Bergen, 25. Februar 2019)